Sprache: Englisch und Deutsch.
Abolitionistische Bewegungen haben spätestens seit dem Tod von George Floyd und der Black Lives Matter Bewegung international neuen Aufschwung erhalten. Sie fordern die Abschaffung von Gefängnis und Strafe. Als Alternativen erproben sie den Aufbau unabhängiger Strukturen gegenseitiger Hilfe und fordern teils auch, dass Geld in den Auf- und Ausbau von sozial(staatlich)en Strukturen gesteckt werden solle, statt in die Polizei. Während der Fokus darauf liegt, wie Strafbehörden rassistische Ordnungen reproduzieren, droht eine Analyse von Sozial(staats)regimen immer wieder aus dem Blick zu geraten, die zeigt, dass Sozialbehörden und ‑politik nicht nur sichern, sondern auch ausgrenzen, disziplinieren, strafen und sterben lassen. Mit dem Ziel der Abschreckung werden Migrant*innen etwa teils gänzlich ausgeschlossen oder sie erhalten nur als Erwerbstätige Zugang zu existenzsichernden Leistungen. Menschen, die nicht dem hetero- und cisnormativen Familienmodell entsprechen, haben es ungleich schwerer. Das Tun des Sozialstaats richtet sich nicht auf alle Subjekte gleichermaßen. Es setzt Menschen in unterschiedliche Verhältnisse zueinander, zu sich selbst, zum Staat und zum (globalen) Arbeitsmarkt. Sozial(staats)regime prägt dabei Alltagskulturen und Vorstellungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Individuum grundlegend. Dabei ist der Sozialstaat Ergebnis historischer Kämpfe und auch heute Bezugspunkt sozialer Bewegungen, die gegen Armut und für ein gutes Leben für alle sowie die spezifischen Belange einzelner Gruppen eintreten. Rechte und konservative Kräfte hingegen mobilisieren die Rede vom Schutz des nationalen Sozialsystems vor angeblicher Bedrohung durch Migration und Betrug für ihre gewaltvollen Projekte.
Dieser Workshop setzt an, aktuelle Sozial(staats)regime in ihrer Komplexität zu verstehen. In den letzten Jahrzehnten hat sich viel getan. Sie waren von ungleicher Europäisierung, neuen Grenzregimen, Ökonomisierung und Austerität aber auch von emanzipatorischen Kämpfen geprägt. Jüngst zeigte sich im Kontext der Corona-Pandemie und steigender Lebenserhaltungs- und Wohnkosten die Bedeutung sozialstaatlicher Auseinandersetzungen wieder neu. Wir stecken in einer mehrfachen Krise der Reproduktion. Das Bürgergeld als hervorstechendste rechtliche Neuerung scheint trotzdem wenig Neues zu bringen, außer einen ausschließenden Namen, etwas weniger Sanktions- und mehr Kontrollmöglichkeiten. Parallel haben die Behörden im Kampf gegen vermeintlichen Sozialhilfebetrug aufgerüstet.
Wir möchten diskutieren, wie eine kritische Analyse von Sozial(staats)regimen heute aussehen sollte. Dazu wollen wir versuchen, kritische Forschung und konkrete Perspektiven aus der mehrsprachigen Arbeit von Basisinitiativen prekär beschäftigter und erwerbsloser Menschen enger zu verknüpfen und so auch schon der Frage näherkommen: Welche Rolle spielen Sozial(staats)regime in aktuellen Konjunkturen des racialised capitalism? What the fuck is going on? Welche Perspektiven auf den Sozialstaat ergeben sich aus den konkreten Auseinandersetzungen sozialer Bewegungen? Wie prägen Sozial(staats)regime den Alltag verschiedener Gruppen und wie nehmen diese Bezug auf Sozialstaat? Wie können wir die soziale Frage in trans- und postna-tionalen Kontexten stellen und die Rassismus‑, Grenz- und Prekarisierungsforschung in sozialen und kapitalistischen Verhältnissen kontextualisieren? Welches Potenzial haben abolitionistische Perspektiven auf Auseinandersetzungen um ‚das Soziale‘ und für Kämpfe für ein gutes Leben im EUropäischen und bundesdeutschen Kontext?
Dies ist der Auftaktworkshop der DFG Emmy Noether Nachwuchsforschungsgruppe „Auseinandersetzungen um ‚das Soziale‘ – Hin zu einer bewegungsbasierten ethnografischen Sozial(staats)regimeanalyse“, die am Institut für Europäische Ethnologie und Empirische Kulturwissenschaft der LMU München angesiedelt ist und eng mit den Gruppen BASTA!, ALSO und Project Shelter zusammenarbeitet. Die Berliner Erwerbsloseninitiative BASTA! öffnet mehrmals wöchentlich ein Beratungscafé, führt Kampagnen und Schulungen durch. Die Arbeitslosen-selbsthilfe Oldenburg (ALSO) macht unabhängige und kostenlose Sozialberatung, hat ein eigenes Haus und berät u.a. prekär Beschäftigte der Fleischindustrie. Project Shelter ist eine Gruppe von Menschen mit und ohne Flucht- oder Migrationsgeschichte, die daran arbeitet, die Rechte obdachloser Menschen in Frankfurt/Main zu erkämpfen bzw. zu schützen und die Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu garantieren. Wir freuen uns auf den Austausch!
Programm:
Freitag, 17.11.23 11:30 Uhr | Ankommen und Mittagessen |
12:30–14:00 Uhr | Willkommen, kurze Inputs vom CoS-Team, interaktive Vorstellungsrunde |
14:15–15:45 Uhr | Panel I Kritische Perspektiven auf den (Sozial-)Staat mit Melinda Cooper (Australian National University), Manuela Bojadžijev (HU Berlin) und Veronika Zablotsky (FU Berlin, Abolition Beyond Borders Collective), Moderation: Lisa Riedner, CoS-Team |
16–17 Uhr | Panel II Rechtskämpfe in Sozial(staats)regimen und über sie hinaus mit Aino Korvensyrjä & Mitali Nagrecha (Justice Collective) und Max Pichl (Uni Kassel), Moderation: Valentina Moraru, CoS-Team |
17:30–18:30 Uhr | Diskussion im interaktiven Format im PA58-Café |
18:30 Uhr | Abendessen |
20–22 Uhr | BASTA! Berlin lädt ein zu einer öffentlichen Veranstaltung mit ALSO, Project Shelter und LACAN |
Samstag, 18.11.2023 9–10:30 Uhr | Panel III (Sub-)Urbane Organisierung in und gegen Rassismus und Kapitalismus mit Pete White (LACAN), Stefania Animento (HU Berlin, Workers Center Berlin), Mouna Maaroufi (Uni Hamburg) Moderation: Anda Nicolae-Vladu (ALSO, Uni Bochum) |
11–12:30 Uhr | Panel IV Sozial(staats)regimeanalyse aus der Perspektive von Konflikten um Grenzen, Arbeit, Geschlecht und Armut mit Peter Birke (Uni Göttingen), Maribel Casas-Cortes (Uni Zaragoza), Josie Hooker (Uni Bath, CoS-Fellow) Moderation: Lisa Riedner, CoS-Team |
12:30 Uhr | Mittagessen |
13:30–15 Uhr | Abschlussdiskussion Für, gegen und darüber hinaus? |
15–17 Uhr | Abschlussdiskussion, Pläne schmieden |
Teilnehmende
Aino Korvensyrjä ist Sozialanthropologin und Aktivistin, die sich in ihrer Arbeit kritisch mit Abschiebungen, Grenzen, Rassismus, Polizieren, Strafen und sozialen Bewegungen auseinandersetzt. Sie schloss sich 2016 der antirassistischen Prozessbeobachtungsgruppe Justizwatch an. Im Jahr 2023 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Justice Collective und untersuchte Rassismus in deutschen Gerichten und im Strafrechtssystem.
Anda Nicolae-Vladu ist Aktivistin bei der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), einer mehrsprachigen Basisorganisation, die gegen Armut kämpft und Menschen dabei unterstützt, ihre sozialen Rechte einzufordern. Sie ist außerdem Doktorandin in Neuerer Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie sich mit Migrationskämpfen in der nordwestdeutschen Textilindustrie beschäftigt.
Josie Hooker ist Doktorandin an der University of Bath, Großbritannien. Ausgehend von den Kämpfen während und nach der Covid-19-Pandemie untersucht ihre Dissertation, wie Arbeits‑, Sozial- und Grenzregime die Gesundheit schlecht bezahlter, prekär beschäftigter migrantisierter Arbeiter*innen in London beeinflussen
Lisa Riedner leitet die Nachwuchsforschungsgruppe „Auseinandersetzung um ‚das Soziale‘ “ am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München. Sie bewegt sich gerne in den Schnittmengen wissenschaftlicher, aktivstischer und künstlerischer Praxis.
Manuela Bojadžijev ist Professorin für Migration in globaler Perspektive am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität Berlin und leitet die Abteilung »Integration, soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile« am Berliner Institut für Migrtaionsforschung. Neben konzeptionellen, methodologischen und epistemischen Fragen der Migrationsforschung interessiert sie sich unter anderem für den »Streit um Migration« in Migrationsgesellschaften und dafür, wie in und durch Repräsentationen von Migration und Flucht gesellschaftlicher Wandel erzählt, gelebt und ausgetragen wird.
Max Pichl ist Professor an der Hochschule Rhein/Main. Sein Buch „Rechtskämpfe. Eine Analyse der Rechtsverfahren nach dem Sommer der Migration“ (Campus: Frankfurt am Main, 2021) ist jetzt als Ebook auch Open Access erhältlich.
Melinda Cooper ist Professorin an der School of Sociology der Australian National University. Ihr Buch Counterrevolution: Extravagance and Austerity in Public Finance erscheint im März 2024.
Mouna Maaroufi ist seit 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Hamburg. Zuvor hat sie unter Betreuung von Prof. Manuela Bojadžijev und Prof. Sandro Mezzadra ihre Dissertation mit dem Titel „Migration and Racialization. Reconfiguring Infrastructures of Labour Supply After the ‚Summer of Migration‘“ an der Leuphana Universität Lüneburg abgeschlossen. Sie war auch als arbeitsrechtliche Beraterin von Migrant*innen bei Arbeit und Leben e.V. beschäftigt. Ihre Forschung beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Transformationen und Infrastrukturen in Migrations- und Arbeitsregimen, Rassismus und Prekarisierung sowie autonomen Arbeitskämpfen, sozialen Kämpfen und Antirassismus.
Pete White ist ein Organizer und Künstler aus Los Angeles. Er ist Gründer des Los Angeles Community Action Network. Seine Arbeit konzentriert sich auf den Aufbau von (Gegen-)Macht, Kultur und gemeinschaftsbasierter Innovation als wesentliche strategische Instrumente.
Peter Birke arbeitet am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen. Sein derzeitiges Hauptforschungsinteresse gilt den Wechselbeziehungen zwischen der Organisation von Arbeitsprozessen und Grenzregimen, die Formen des Widerstands gegen Rassismus und Ausbeutung prägen können.
Stefania Animento ist Soziologin und arbeitet als unabhängige Forscherin und Aktivistin. Zu ihren Interessen gehören Migration, Arbeit, soziale Bewegungen und digitaler Kapitalismus. Sie schreibt über Arbeitskämpfe und Rassismus in digitalen Ökonomien und war außerdem Teil mehrerer aktivistischer Projekte in Berlin, wie zum Beispiel Berlin Migrant Strikers, Critical Workers und dem Workers Center Berlin.
Tim Herbold arbeitet und promoviert im Rahmen der Nachwuchsforschungsgruppe „Contestations of ‘the Social‘“ am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München.
Valentina Moraru ist eine Aktivistin und Forscherin, die derzeit ihr erstes Jahr als Promovierende im Projekt „Contestations of the Social“ abschließt. In enger Zusammenarbeit mit der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg liegt ihre Forschung an den Schnittstellen von Moral, prekärer Arbeit und Migration.
Veronika Zablotsky ist politische Theoretikerin und Postdoktorandin an der FU Berlin, und arbeitet derzeit aus einer transnationalen feministischen und postkolonialen Perspektive an den Themen Zuflucht (sanctuary), Abolitionismus und grenzüberschreitende Solidarität. Sie ist Mitbegründerin des Abolition Beyond Borders Collective und des Critical Armenian Studies Collective und Mitglied des International Solidarity Action Research Network.
Dolmetscher*innen: Stefan Schade und Team
Event-Technik: Reinhard Grinschgl, Green Congress